Joachim Kleen
Wie Beziehungskonflikte entstehen
Aktualisiert: 30. März
und warum du es nicht persönlich nehmen solltest.

Wenn dir die Liebe abhanden gekommen ist, sie wie ein trockenes Brot zwischen dir und deinem Partner oder Partnerin hin und her gereicht wird. Wenn du gerade den Schmerz einer Trennung verarbeiten musst oder du davon überzeugt bist, dass es dir nie gelingen wird, den richtigen Menschen zu treffen, mit dem du eine erfüllte Liebesbeziehung führen kannst, dann wird es Zeit zu verstehen, was der eigentliche Grund dafür ist, dass du immer wieder enttäuscht wirst.
Um tatsächlich zu verstehen, warum deine Liebesbeziehungen immer wieder scheitern oder sich unglücklich entwickeln, lade ich dich zu einer kleinen Lebensreise ein. Wir kehren zurück an den Tag deiner Zeugung.
Ja, so merkwürdig es dir erscheinen mag: die Fähigkeit zu lieben beginnt mit dem Zeitpunkt deiner Zeugung. Wer waren deine leiblichen Eltern in dieser Zeit? Waren sie verliebt ineinander? Warst du von ihnen wirklich gewollt? Waren sie auf dich vorbereitet? Fühlten sie sich selbst geliebt und konnten aus dieser Fülle heraus den Säugling, der du gute neun Monate später warst, in Liebe empfangen?
Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, sagte einmal: "Du sollst dein Kind in Ehrfurcht empfangen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen."
War dies deinen Eltern gegeben?
Es sind tatsächlich die ersten Lebensmonate, die darüber entscheiden, ob wir uns grundsätzlich und in Zukunft sicher, geborgen und geschützt fühlen. In dieser Zeit entwickelt sich unser Urvertrauen. Es sind dann die nächsten fünf bis sieben Lebensjahre, die unser Bindungsverhalten prägen. Schließlich sind wir mit ungefähr 12 Jahren der Beziehungsmensch, der wir ein Leben lang sein werden.
Dann schon beginnt die Pubertät, also jene Zeit, in der wir uns von den Eltern lösen und die ersten autonomen Bindungserfahrungen mit anderen Jungen und Mädchen machen. Diese ersten autonomen Bindungserfahrungen sind quasi die Referenzerfahrungen für unser gesamtes, späteres Beziehungslebens.
Aus dieser oben beschriebenen Bindungssozialisation entwickelt sich unser grundsätzlicher Bindungsstil:
- der sicher gebundene Bindungsstil,
- der unsicher- vermeidende Bindungsstil,
- der unsicher- ängstliche Bindungsstil.
Unser Bindungsstil entscheidet über unsere weiteren Beziehungserfahrungen. Darum erlaube mir, dass ich zu jedem Bindungsstil eine kleine Erörterung gebe:
Der sichere Bindungsstil
Sicher gebundene Menschen sind mit Eltern aufgewachsen, die ihren Kindern durch ihr Beziehungsverhalten die tiefe, innere Überzeugung vermitteln konnten, dass sie um ihrer selbst willen geliebt, liebenswert und wertvoll sind. Ihre Eltern konnten eine gelungene Balance zwischen Autonomie und Bindung herstellen und sowohl gesunde Selbstwahrnehmung als auch ein gesundes Selbstwertgefühl vermitteln.
Sicher gebundene Menschen tragen in sich die Überzeugung "Ich bin okay" und müssen niemanden abwerten oder erhöhen, um sich selbst in irgendeiner Weise zu hierarchisieren.
Der unsicher- vermeidende Bindungsstil
Unsicher- vermeidende Menschen wurden in der Regel von ihren Eltern nicht in ihrem Bedürfnis nach Autonomie unterstützt. Im Gegenteil.
Sie mussten als Kinder erleben, dass sich ihre Eltern nicht gut von ihnen abgrenzen konnten. Emotionale Bedürfnisse der Eltern wurden auf ihre Kinder übertragen und diese Kinder hatten hatten nur die Chance, sich emotional zu retten, indem sie sich innerlich und äußerlich zurückzogen.
Zuviel Nähe erzeugt bis heute bei ihnen eine tiefe, unbewusste Angst vor "Ich-Verlust". Wenn es "zu eng" wird, suchen unsicher- vermeidende Menschen schnell das Weite. Das ist ihr Überlebensmechanismus, der sie als Kind vor emotionaler Überflutung gerettet hat.
Unsicher- vermeidende Menschen schwanken somit immer zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst vor Vereinnahmung.
Der unsicher- ängstliche Bindungsstil
Unsicher- ängstliche Menschen wiederum wurden in der Regel von ihren Eltern nicht in ihrem Bedürfnis nach Nähe unterstützt. Diese Kinder liefen "nebenher".
Ihre Eltern konnten ihnen nicht das Gefühl von Geborgenheit, emotionaler Sicherheit und innerer Zugehörigkeit vermitteln. Ihre Eltern wussten nicht, dass ein Kind vereinsamt, wenn es zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Als Säuglinge und Babys stellten diese Kinder häufig das Schreien im Gitterbett ein. Es kommt ja eh keiner.
Als Kleinkinder machen sie dann durch weinen und klammern auf sich aufmerksam, wenn Mama oder Papa sich entfernt. Sie beruhigen sich erst dann wieder, wenn Mama oder Papa wieder zurück ist.
Als Erwachsene wollen sie viel Zeit und Nähe mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner verbringen. Phasen von Trennungen bzw. Ungewissheit darüber, wo der Partner oder die Partnerin gerade ist, setzen unsicher- ängstliche Menschen schnell unter Stress. Ist der Partner oder die Partnerin wieder zurück, entspannen und beruhigen sie sich wieder.
Unsicher-ängstliche Menschen schwanken zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Angst, verlassen zu werden.
Günstige und ungünstige Beziehungskonstellationen
Sicher gebundene Menschen machen selbstverständlich seltener schmerzhafte Beziehungserfahrungen. Bereits in der dating-phase scannen sie unbewusst, ob die Person vor ihnen gut für sie ist oder nicht. Sie leiden auch kaum in Singlephasen. Da sie, obacht (!), wissen, dass sie grundsätzlich liebenswert sind. Sie machen sie sich keine Sorgen darüber, ob sie alleine bleiben werden oder nicht.
Der nächste gute Partner oder die nächste gute Partnerin wird schon kommen. In der Zwischenzeit sind sie mit sich und ihrem Leben gut und erfüllt unterwegs.
Unsicher- vermeidende Menschen bilden sich ein, dass sie sicher- gebundene Menschen seien. Das liegt vor allem daran, dass sie sich schnell Kontakte und sexuelle Begegnungen herstellen und sich vermeintlich emotionslos wieder trennen können.
Sie sind häufig attraktive und sehr gesellige Menschen und die geborenen Flirterinnen und Flirter. Sie haben häufig One-night-stands und Affären, lieben Partys und Aufregung und suchen und genießen die Aufmerksamkeit, die sie beim gewünschten Gegenüber erzeugen.
Das Dilemma, in dem sie stecken, besteht darin, dass sie diese Aufmerksamkeit mit Liebe verwechseln und sich schnell leer fühlen, wenn sie diese nicht in ihrem Leben spüren. Dann gehts wieder auf die Piste.
In ihrem Herzen sind aber auch diese Männer und Frauen alleine und sehnen sich nach wirklicher emotionaler Nähe. Das daraus ein Teufelskreis entsteht, ist schnell nachvollziehbar. Wer ständig ein Feuerwerk braucht um sich zu spüren, verharrt nicht lange am Lagerfeuer einer verbindlichen Beziehung. Häufig versuchen sie beides zu vereinbaren: eine feste Beziehung und ein weiteres, autonomes Party- und Flirtleben.
Unsicher- ängstliche Menschen sind in ihrem Kern stark verunsichert. Sie sind im Inneren davon überzeugt, nicht wirklich liebenswert zu sein. Sie nehmen ihre Bedürfnisse nicht wirklich wahr, weil ihnen diese immer abgesprochen wurden. Liebe ist für sie nur dann Liebe, wenn sie mit ihrem Partner verschmelzen können.
Alles, was sich zwischen ihnen und ihre Partnerin oder ihren Partner schieben könnte, beunruhigt sie. Am wohlsten fühlen sie sich in der Zweisamkeit oder im Kreis ihrer eigenen Familie.
Es ist ihnen vollkommen unverständlich, warum ihre Partnerin oder Partner einen eigenen Freundeskreis hat oder eigene Interessen verfolgt. Es ist doch so schön Zuhause. Unsicher- ängstliche Menschen lieben Pärchen Abende mit anderen fest verbundenen Paaren. Diese Beziehungen sind überschaubar und vor allem stabil.
Aus den oben genannten Bindungstypen ergeben sich zwei besonders erfolgreiche Beziehungskonstellationen:
Sicher gebunden/ sicher gebunden und unsicher- vermeidend/ unsicher- ängstlich.
Warum eine Beziehung zwischen zwei sicher gebundenen Menschen eine gelungene Beziehungskonstellation ergibt, muss, so glaube ich, nicht näher erläutert werden. Diese Menschen sind auf Nähe oder Aufmerksamkeit nicht angewiesen Sie genießen diese, ohne daraus ihren eigenen Selbstwert beziehen zu müssen.
Sicher gebundene Menschen werden diesen Beitrag höchstwahrscheinlich auch gar nicht lesen, weil es nicht ihr Thema betrifft. Man geht davon aus, dass ungefähr 50% aller Männer und Frauen sicher gebundene Menschen sind.
Warum eine Beziehung zwischen einem unsicher- vermeidenden Menschen und einem unsicher- ängstlichen Menschen ebenfalls eine gelungene Beziehungskonstellation ergibt, erschließt sich vielleicht erst auf dem zweiten Blick. Aber, diese beiden Beziehungstypen ergänzen sich in hervorragender Weise und das häufig über viele Jahre.
Man geht davon aus, dass ungefähr 40% aller Menschen einem dieser beiden Bindungstypen entspricht. Das ist auch deshalb interessant, weil die durchschnittliche Scheidungsquote in Deutschland bei knapp 40% liegt.
Was macht nun die Beziehung zwischen einem vermeidenden und einem ängstlichen Menschen so erfolgreich? Wie gesagt, diese Beiden ergänzen sich hervorragend.
Leider haben diese Paare viele Konflikte miteinander und fügen sich, ungewollt, emotionale Verletzungen zu, die eigentlich nur immer neue Reinszenierungen früher, kindlicher Erfahrungen sind. Die Beziehungsdynamik ist von vielen Dramen bestimmt und auch Trennungen sind in der Regel eskalierend. On/Off- Beziehungen, Fernbeziehungen, Hochstrittigkeit nach Trennungen mit Kindern oder Hass und Wut auf den Ex-Partner, der Ex- Partnerin; all dies können Merkmale einer Beziehung zwischen ängstlichen und vermeidenden Menschen sein.
Warum ist das so?
Beziehungsdynamiken zwischen vermeidenden und ängstlichen Menschen
Unsicher- ängstliche Menschen verlieben sich schnell. Wenn sie das Gefühl haben, dass ein anderer Mensch sich für sie interessiert, dann geben sie alles. Sie aktivieren ihr gesamtes Bindungssystem.
Sie schaffen Atmosphäre, Gemütlichkeit, Fürsorge und alles, was es braucht, damit ein Partner oder eine Partnerin sich wohl fühlt. Sie richten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Menschen, in den sie sich verliebt haben. Immer in der Hoffnung, dass dieser Mensch sich wohl bei ihnen fühlt, bleiben wird und sich eine dauerhafte und liebevolle Beziehung entwickelt. Trifft nun dieser unsicher- ängstliche Mensch auf einen unsicher- vermeidenden Menschen, nimmt das Drama seinen Lauf:
Der unsicher vermeidende Mensch genießt die Aufmerksamkeit, die Komplimente und das Bemühen seines unsicher- ängstlichen Liebespartners. Das ist es ja, was er braucht um sich zu fühlen. Durch seine dadurch entstehende Lebendigkeit, seinem Charme und seiner aufregenden sexuellen Aura ergänzt dieser Mensch die romantisch- sinnliche Atmosphäre, die der unsicher- ängstliche Partner schafft.
Gemeinsam schaffen beide Momente intensiver Begegnungen. Der ängstliche Partner wird für seine Anstrengungen belohnt und bekommt seine Zuwendung, der vermeidende Partner ohne Anstrengung seine Aufmerksamkeit.
Das geht nicht lange gut. Während der ängstliche Partner entspannt und sich denkt, auf dem Weg zu einer verbindlichen Beziehung zu sein, weil es doch zu schön war, wird es dem vermeidenden Partner schnell zu eng und er bekommt Angst davor, seine sichere Autonomie zu verlieren.
Man verbringt vielleicht ein wunderbares Wochenende miteinander. Der ängstliche Partner fühlt sich wohl und freut sich auf die kommende Zeit. Der vermeidende hat sich wohl gefühlt, braucht nun aber wieder Distanz, um sich nicht vereinnahmen zu lassen.
Die nächsten Tage sind für den ängstlichen Partner ein großes Rätsel. Er erreicht den anderen nicht. Textnachrichten werden sehr spät beantwortet, der vermeidende Partner findet tausend Gründe und Begründungen dafür, sich nicht auf ein nächstes Treffen zu verabreden. Aber der vermeidende Partner fühlt sich wohl: Er bekommt Aufmerksamkeit und die Sicherheit, gewollt zu werden. Gleichzeitig schützt er sich. Instinktiv spürt er, dass der ängstliche Partner all seine freie Zeit wird für die Beziehung beanspruchen wollen.
Der ängstliche Partner wiederum verfällt in Zweifel. "Hab ich was falsch gemacht?", "Bin ich nicht attraktiv genug?" Es können tausend Fragen sein, die ihn plagen. Während also der ängstliche Partner sein Bindungssystem aktiviert, um wieder Nähe herstellen und sich beruhigen zu können, deaktiviert der vermeidende Partner sein Bindungssystem, um die für ihn notwendige Distanz herzustellen und sich seinerseits beruhigen zu können.
Der vermeidende Partner geht solange auf Distanz, bis die Gefahr besteht, dass der ängstliche Partner abspringen könnte. Hin und wieder schickt er ein paar kleine Aufmerksamkeiten, um seinen ängstlichen Partner nicht zu verlieren. Das motiviert den ängstlichen Partner, sich weiter zu bemühen und so kommt es zum nächsten Treffen. Wieder ist alles wunderbar. Dann geht das Spiel von vorne los.
Die oben beschriebene Dynamik führt dazu, das diese Beiden ein unbefriedigendes Gleichgewicht erzeugen. Dieses Gleichgewicht ist zugleich das permanente Aushandeln von Distanz und Nähe, von Bindung und Autonomie. Allerdings betont der ängstliche Partner einseitig die Bindung und der vermeidende die Autonomie. Beide haben kein ausgewogene Balance dazu entwickelt.
Dramatisch ist, dass diese Dynamiken und Verhaltensweisen unbewusst inszeniert werden und Lösungsmuster aus der Kindheit darstellen, die nicht transformiert wurden.
Irgendwann fühlt sich der ängstliche Partner vernachlässigt oder der vermeidende Partner eingeengt. Dann kommt es zum Streit: "Nie hast du Zeit für mich!", ruft der ängstliche Partner oder "Du klammerst!", schimpft der vermeidende Partner. Loslassen und sich trennen fällt beiden schwer. Denn eigentlich möchten sie den Anderen nicht verlieren.
Die Lösung suchen sie aber jeweils im Anderen. "Wenn du nicht so klammern würdest, wäre alles gut." oder "Wenn du dich mehr einlassen würdest, hätten wir keine Probleme."
Eine solche Beziehung kann sich viele Jahre hinziehen. Der eine Partner quält sich damit, dass er nicht "gesehen" wird, der andere Partner, dass er "eingeengt" wird. Irgendwann kapituliert einer von Beiden, sitzt gefühlt verlassen zu Hause rum, während der Partner auf der Piste ist und sich amüsiert oder langweilt sich auf dem Sofa vor dem Fernseher, um weiteren Streit zu vermeiden.
Vielleicht bricht einer von beiden aus: es wird ihm zu viel. Eine beliebte Lösung sind Affären, heimliche Liebschaften. Weil der Mut fehlt, sich zu trennen, werden Dramen inszeniert, damit die Beziehung scheitern muss. Statt sich wirklich mit den Ursachen des Problems zu beschäftigen, wird die Lösung im "Außen" gesucht.
Das führt zu Lügen, Vertuschungen, gas-lighning und Betrug. Fliegt das Drama auf, dann sucht der Flüchtling (das kann durchaus der ängstliche Partner sein) die Schuld beim anderen Partner: "Du hast mich eingeengt!" oder "Du hast mich vernachlässigt!"
Der betrogene Partner weigert sich ebenfalls, seine Verantwortung für das Drama zu übernehmen. Alle Verantwortung wird auf den "Betrüger", die "Betrügerin" übertragen: "Du bist Beziehungsunfähig" oder es folgen Beschimpfungen wie "Arschloch", "Schlampe" und Schlimmeres.
Die Erkenntnis, dass jeder und jede für sich dazu beigetragen hat, dass ihre Beziehung zu einem Drama wurde, ist zu schmerzhaft anzunehmen. Also haut jeder und jede auf den Anderen oder die Andere drauf, um sich zu regulieren und zu rechtfertigen.
Wenn du gerade in einem Beziehungskonflikt bist oder versuchst, deine alte Beziehung aufzuarbeiten, kann es lohnenswert sein, die Dynamik deiner Beziehung unter der Lupe deines Bindungsstils und dem Bindungsmuster deines Partners, deiner Partnerin zu betrachten.
Die Lösung deines Konflikts bekommt dadurch eine weitere Dimension und kann durch die Auseinandersetzung mit dir selbst gefunden werden. Selbst dann, wenn dein Partner, deine Partnerin nicht bereit ist, zur Lösung beizutragen.